Vor den Arbeitsgerichten führen oftmals kleinste Details zu weitreichenden Entscheidungen. Ein solcher Fall, der die Grenzen und Interpretationen von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen betrifft, wurde kürzlich vom Bundesarbeitsgericht entschieden. Diese Entscheidung hat große Bedeutung sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer.
Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
Normalerweise hat der Arbeitgeber keine Chance gegen eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Diese ist seit Jahrzehnten praktisch unangreifbar. Dann kam ein besonderer Fall und ein sehr hartnäckiger Arbeitgeber, der diesen besonderen Fall bis zum Bundesarbeitsgericht getrieben hat.
Definition: Was sind Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen?
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, oft als „Krankenscheine“ bezeichnet, sind offizielle Dokumente, die von Ärzten ausgestellt werden. Sie bescheinigen, dass eine Person aufgrund von Krankheit oder gesundheitlichen Einschränkungen nicht in der Lage ist, ihrer Arbeit nachzugehen. Diese Bescheinigungen dienen als Nachweis gegenüber dem Arbeitgeber und sind zentral für die Gewährung von Krankengeld durch die Krankenkassen.
Im deutschen Arbeitsrecht sind Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von großer Bedeutung. Nach § 5 des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) ist der Arbeitnehmer verpflichtet, dem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen. Ab dem vierten Krankheitstag ist eine ärztliche Bescheinigung erforderlich. Diese Bescheinigungen gelten grundsätzlich als starker Beweis für die Arbeitsunfähigkeit.
Der Fall des Bundesarbeitsgerichts
Der zugrundeliegende Fall betrifft einen Arbeitnehmer, der seit März 2021 als Helfer beschäftigt war. Nach Erhalt einer Kündigung im Mai 2022 legte dieser mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, die genau bis zum Ende der Kündigungsfrist reichten. Der Arbeitgeber bezweifelte daraufhin den Beweiswert dieser Bescheinigungen.
Während der Arbeitgeber argumentierte, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert sei, hielt der Arbeitnehmer dagegen, dass seine Arbeitsunfähigkeit bereits vor Erhalt der Kündigung bestand und daher legitim sei.
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind im Arbeitsrecht als primäres Beweismittel für Krankheitstage anerkannt. Sie begründen normalerweise die Pflicht des Arbeitgebers zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die Glaubwürdigkeit dieser Bescheinigungen kann jedoch in Frage gestellt werden, wenn Umstände vorliegen, die auf eine mögliche Manipulation oder Inanspruchnahme aus nicht gesundheitlichen Gründen hindeuten.
Urteil des Bundesarbeitsgerichts
Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch besondere Umstände erschüttert werden kann. Insbesondere kann dies aufgrund eines engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen Kündigung und Arbeitsunfähigkeit sowie der sofortigen Arbeitsaufnahme nach Kündigungsende der Fall sein.
Durch diese Entscheidung verlagert sich die Beweislast auf den Arbeitnehmer, der nun nachweisen muss, dass die Arbeitsunfähigkeit tatsächlich aufgrund gesundheitlicher Gründe bestand.
Relevanz für die Praxis
Diese Entscheidung stärkt die Position von Arbeitgebern, die Zweifel an der Legitimität von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen haben, insbesondere in Fällen, wo der Verdacht auf opportunistische Krankmeldungen besteht. Für Arbeitnehmer bedeutet dies, dass sie bei der Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen während oder kurz nach Kündigungsphasen mit zusätzlichen Prüfungen rechnen müssen.
Bedeutung für das Arbeitsrecht insgesamt
Das Urteil könnte langfristige Auswirkungen auf die Handhabung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Arbeitsrecht haben und setzt Präzedenzfälle für ähnliche Situationen in der Zukunft. Es könnte auch die zukünftige Rechtsprechung in ähnlichen Fällen beeinflussen, indem es die Notwendigkeit einer sorgfältigen Einzelfallprüfung unterstreicht.
Hier die Original Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts:
FAQ zum Thema Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
Was besagt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen?
Das Urteil stellt fest, dass der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert sein kann, wenn sie zeitlich genau mit der Kündigungsfrist übereinstimmen und der Arbeitnehmer unmittelbar nach Ende des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.
In welchen Fällen kann der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung angezweifelt werden?
Der Beweiswert kann angezweifelt werden, wenn Umstände wie eine zeitliche Übereinstimmung der Krankmeldung mit einer Kündigungsfrist oder eine unmittelbare Arbeitsaufnahme nach Krankheit Anlass zu Zweifeln an der Echtheit der Arbeitsunfähigkeit geben.
Wer trägt die Beweislast, wenn der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist?
In einem solchen Fall verlagert sich die Beweislast auf den Arbeitnehmer, der nachweisen muss, dass seine Arbeitsunfähigkeit tatsächlich aufgrund gesundheitlicher Gründe bestand.
Welche Konsequenzen hat das Urteil für Arbeitnehmer?
Arbeitnehmer müssen mit strengeren Überprüfungen rechnen, wenn sie Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen während oder nach einer Kündigungsphase vorlegen, insbesondere wenn der Verdacht auf Missbrauch besteht.
Wie sollten Arbeitgeber auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen reagieren, die verdächtig erscheinen?
Arbeitgeber sollten solche Fälle sorgfältig prüfen und gegebenenfalls rechtliche Schritte einleiten. Es ist ratsam, sich juristischen Rat, beispielsweise von spezialisierten Arbeitsrechtskanzleien wie Pöppel Rechtsanwälte, einzuholen, um angemessen zu reagieren.
Hier einige Fallbeispiele:
Fallbeispiel 1: Die Übereinstimmung von Krankmeldung und Kündigungsfrist
Situation: Herr Müller, ein langjähriger Mitarbeiter eines mittelständischen Unternehmens, erhält unerwartet eine Kündigung zum 30. April. Er meldet sich am 1. April krank und legt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, die genau bis zum 30. April datiert ist. Unmittelbar nach dem Ende seines Arbeitsverhältnisses tritt Herr Müller eine neue Stelle an.
Konsequenzen: Der Arbeitgeber zweifelt den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an, da die Krankmeldung genau mit der Kündigungsfrist übereinstimmt und Herr Müller direkt eine neue Anstellung aufnimmt. Das Arbeitsgericht muss nun prüfen, ob die Krankmeldung tatsächlich berechtigt war.
Fallbeispiel 2: Die fortlaufenden Folgebescheinigungen
Situation: Frau Schmidt, Angestellte in einem großen Konzern, erhält eine Kündigung, die in zwei Monaten wirksam wird. Während dieser Zeit legt sie mehrere aufeinanderfolgende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, die jeweils am Ende der vorherigen enden und insgesamt die gesamte Kündigungsfrist abdecken. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nimmt sie sofort eine neue Arbeit auf.
Konsequenzen: Der Arbeitgeber stellt den Beweiswert der fortlaufenden Folgebescheinigungen infrage und verweigert die Entgeltfortzahlung ab dem zweiten Monat der Krankmeldung. Das Gericht muss nun entscheiden, ob die Bescheinigungen als glaubwürdiger Nachweis der Arbeitsunfähigkeit gelten können.
Fallbeispiel 3: Die vorhersehbare Krankmeldung
Situation: Herr Becker, ein Mitarbeiter in einem kleinen Handwerksbetrieb, erfährt von geplanten Entlassungen im Unternehmen. Kurz nachdem er informell von seiner bevorstehenden Kündigung hört, legt er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, die bis zum mutmaßlichen Ende seines Arbeitsverhältnisses reicht. Er beginnt keine neue Arbeit unmittelbar nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses, sucht aber aktiv nach Stellen.
Konsequenzen: Obwohl Herr Becker nicht sofort eine neue Stelle antritt, zweifelt der Arbeitgeber dennoch an der Echtheit seiner Krankmeldung, da sie zeitlich mit den Gerüchten über seine Kündigung zusammenfällt. Das Arbeitsgericht muss nun die Glaubwürdigkeit der Krankmeldung bewerten, wobei auch das Fehlen einer unmittelbaren neuen Beschäftigung berücksichtigt wird.
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