Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 31. Mai 2023 in Bezug auf die Durchbrechung der „Equal Pay“-Regel für Leiharbeitnehmer durch Tarifverträge wirft ernsthafte Fragen auf. Von Arbeitnehmerseite wird kritisiert, dass es insbesondere die Interessen von Großkonzernen auf Kosten der betroffenen Arbeitnehmer begünstigt. Die Entscheidung stellt im Ergebnis eine klare Benachteiligung der Leiharbeitnehmer dar und ignoriert insoweit den Schutz, der ihnen nach geltendem Recht zusteht.
Gemäß dem Urteil kann ein Tarifvertrag, der vom Grundsatz der „Equal Pay“-Regel abweicht, verwendet werden, um den Leiharbeitnehmern eine niedrigere tarifliche Vergütung zu zahlen, als diese die Kollegen an der Werkbank erhalten. In diesem Fall handelt es sich um ein Tarifwerk zwischen dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) und der Gewerkschaft ver.di. Das Gericht ist der Ansicht, dass dieser Tarifvertrag den unionsrechtlichen Anforderungen entspricht, ohne jedoch umfassend zu begründen, wie genau er mit dem Schutz der Leiharbeitnehmer vereinbar ist.
Die Klägerin, eine Leiharbeitnehmerin, forderte während ihrer Überlassungszeit eine Differenzvergütung aufgrund des Gleichstellungsgrundsatzes gemäß § 8 Abs. 1 AÜG. Sie behauptete, dass vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers einen höheren Stundenlohn erhielten. Trotzdem wies das Gericht ihre Klage ab und stellte fest, dass die Beklagte aufgrund des Tarifwerks von iGZ und ver.di nur verpflichtet war, die tarifliche Vergütung zu zahlen. Das Gericht ignorierte dabei die Tatsache, dass die Klägerin durch diese Abweichung einen erheblichen Nachteil erlitt und eine geringere Vergütung erhielt als Stammarbeitnehmer in vergleichbaren Positionen.
Bundesarbeitsgericht hält Nachteile für Ausgeglichen
Das Gericht legt fest, dass der Nachteil der Leiharbeitnehmer durch Ausgleichsvorteile kompensiert wird. Diese Ausgleichsvorteile werden jedoch nicht näher definiert und bleiben vage. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass in der Praxis viele Leiharbeitsverhältnisse über lange Zeiträume am selben Arbeitsplatz bestehen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) besagt, dass Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen müssen. Im vorliegenden Fall besteht die Möglichkeit, dass verleihfreie Zeiten als Ausgleichsvorteil dienen können, indem das Entgelt weiterhin gezahlt wird. Jedoch sind verleihfreie Zeiten in Deutschland bereits erlaubt, selbst bei befristeten Leiharbeitsverhältnissen, was bedeutet, dass dies kein spezifischer Vorteil ist, der den Nachteil der Leiharbeitnehmer ausgleicht.
Darüber hinaus weist das Urteil des Bundesarbeitsgerichts darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten vollständig auf die Verleiher übertragen hat. Dies geschieht durch den Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung gemäß § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG. Dies mag zwar eine gewisse Sicherheit bieten, stellt jedoch keinen angemessenen Ausgleich für die Lohnunterschiede während der Überlassungszeit dar.
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts ermöglicht es den Großkonzernen, sich auf Kosten der Leiharbeitnehmer einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Es schwächt den Schutz der Arbeitnehmer und ignoriert deren Recht auf gleiches Arbeitsentgelt. Die Entscheidung des Gerichts steht im Widerspruch zum Ziel der Gleichbehandlung und des Schutzes der Arbeitnehmerrechte. Eine Überprüfung dieser Regelung ist dringend erforderlich, um sicherzustellen, dass die Rechte der Leiharbeitnehmer gewahrt werden und sie nicht weiterhin benachteiligt werden.
Hier die Pressemitteilung des BAG im Wortlaut:
31.05.2023 – Pressemitteilung 25/23 – Leiharbeit – gleiches Arbeitsentgelt – Abweichung durch Tarifvertrag
Von dem Grundsatz, dass Leiharbeitnehmer für die Dauer einer Überlassung Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt wie vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers haben („equal pay“), kann nach § 8 Abs. 2 AÜG* ein Tarifvertrag „nach unten“ abweichen mit der Folge, dass der Verleiher dem Leiharbeitnehmer nur die niedrigere tarifliche Vergütung zahlen muss. Ein entsprechendes Tarifwerk hat der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) mit der Gewerkschaft ver.di geschlossen. Dieses genügt den unionsrechtlichen Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG** (Leiharbeits-RL).
Die Klägerin war aufgrund eines nach § 14 Abs. 2 TzBfG befristeten Arbeitsverhältnisses bei der Beklagten, die gewerblich Arbeitnehmerüberlassung betreibt, als Leiharbeitnehmerin in Teilzeit beschäftigt. Sie war im Streitzeitraum Januar bis April 2017 hauptsächlich einem Unternehmen des Einzelhandels als Kommissioniererin überlassen und verdiente zuletzt 9,23 Euro brutto/Stunde. Sie hat behauptet, vergleichbare Stammarbeitnehmer erhielten einen Stundenlohn von 13,64 Euro brutto und mit ihrer Klage unter Berufung auf den Gleichstellungsgrundsatz des § 8 Abs. 1 AÜG bzw. § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG aF für den Zeitraum Januar bis April 2017 Differenzvergütung iHv. 1.296,72 Euro brutto verlangt. Sie hat gemeint, das auf ihr Leiharbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit Anwendung findende Tarifwerk von iGZ und ver.di sei mit Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL und der dort verlangten Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer nicht vereinbar. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, das Tarifwerk von iGZ und ver.di verstoße nicht gegen Unionsrecht, außerdem hat sie die Höhe der von der Klägerin behaupteten Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer des Entleihers mit Nichtwissen bestritten.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin blieb vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolglos. Um unionsrechtliche Fragen zu klären, hatte der Senat zunächst mit Beschluss vom 16. Dezember 2020 (- 5 AZR 143/19 (A) – BAGE 173, 251) das Revisionsverfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung von Rechtsfragen im Zusammenhang mit der von Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL verlangten, aber nicht näher definierten „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ ersucht. Diese hat der EuGH mit Urteil vom 15. Dezember 2022 (- C-311/21 – [TimePartner Personalmanagement]) beantwortet.
Nach Fortsetzung der Revisionsverhandlung hat der Senat heute die Revision der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt, also auf ein Arbeitsentgelt, wie es vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers erhalten. Aufgrund des wegen der beiderseitigen Tarifgebundenheit auf das Leiharbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifwerks von iGZ und ver.di war die Beklagte nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AÜG und § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG aF nur verpflichtet, die tarifliche Vergütung zu zahlen. Dieses Tarifwerk genügt, jedenfalls im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Schutzvorschriften für Leiharbeitnehmer, den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL. Trifft der Sachvortrag der Klägerin zur Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer zu, hat die Klägerin zwar einen Nachteil erlitten, weil sie eine geringere Vergütung erhalten hat, als sie erhalten hätte, wenn sie unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz von dem entleihenden Unternehmen eingestellt worden wäre. Eine solche Schlechterstellung lässt aber Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL ausdrücklich zu, sofern dies unter „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ erfolgt. Dazu müssen nach der Vorgabe des EuGH Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen. Ein möglicher Ausgleichsvorteil kann nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl bei unbefristeten als auch befristeten Leiharbeitsverhältnissen die Fortzahlung des Entgelts auch in verleihfreien Zeiten sein. Anders als in einigen anderen europäischen Ländern sind verleihfreie Zeiten nach deutschem Recht auch bei befristeten Leiharbeitsverhältnissen stets möglich, etwa wenn – wie im Streitfall – der Leiharbeitnehmer nicht ausschließlich für einen bestimmten Einsatz eingestellt wird oder der Entleiher sich vertraglich ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Leiharbeitnehmer vorbehält. Das Tarifwerk von iGZ und ver.di gewährleistet die Fortzahlung der Vergütung in verleihfreien Zeiten. Außerdem hat der deutsche Gesetzgeber mit § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG*** für den Bereich der Leiharbeit zwingend sichergestellt, dass Verleiher das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten uneingeschränkt tragen, weil der Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung nach § 615 Satz 1 BGB, der an sich abdingbar ist, im Leiharbeitsverhältnis nicht abbedungen werden kann. Auch hat der Gesetzgeber dafür gesorgt, dass die tarifliche Vergütung von Leiharbeitnehmern staatlich festgesetzte Lohnuntergrenzen und den gesetzlichen Mindestlohn nicht unterschreiten darf. Zudem ist seit dem 1. April 2017 die Abweichung vom Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts nach § 8 Abs. 4 Satz 1 AÜG zeitlich grundsätzlich auf die ersten neun Monate des Leiharbeitsverhältnisses begrenzt.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 31. Mai 2023 – 5 AZR 143/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 7. März 2019 – 5 Sa 230/18 –
*§ 8 Abs. 1 und Abs. 2 AÜG lautet:
„(1) Der Verleiher ist verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren (Gleichstellungsgrundsatz). …
(2) Ein Tarifvertrag kann vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen, soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet. Soweit ein solcher Tarifvertrag vom Gleichstellungsgrundsatz abweicht, hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die nach diesem Tarifvertrag geschuldeten Arbeitsbedingungen zu gewähren. …“
**Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG lautet:
„Die Mitgliedstaaten können nach Anhörung der Sozialpartner diesen die Möglichkeit einräumen, auf der geeigneten Ebene und nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern, welche von den in Absatz 1 aufgeführten Regelungen abweichen können, enthalten können.“
***§ 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG lautet:
„Das Recht des Leiharbeitnehmers auf Vergütung bei Annahmeverzug des Verleihers (§ 615 Satz 1 BGB) kann nicht durch Vertrag aufgehoben oder beschränkt werden; § 615 Satz 2 BGB bleibt unberührt.“
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